2020 – Ein Jahr, das uns allen in Erinnerung bleiben wird. Jeder, der dachte, dass unsere Generation keine schweren gesellschaftlichen Krisen mehr wird überwinden müssen, wurde eines besseren belehrt. So gut wie alle Branchen mussten sich (zumindest zeitweise) umstrukturieren. Doch einige Geschäftsfelder waren härter betroffen als andere: Vor allem die Event-Branche kämpft ums Überleben. Künstler sitzen auf dem Trockenen, Clubs bleiben geschlossen oder müssen meist erneut schließen, falls die Maßnahmen doch mal gelockert wurden. So langsam finden die ersten Konzerte wieder statt, aber Abstand halten und verringerte Besucherzahlen lassen dieses prickelnde Gefühl einer LiveShow nicht wirklich aufflammen. Die Künstler versuchen schon nach Kräften das Beste aus der Situation rauszuholen. So haben bereits einige Bands Konzerte aus dem eigenen in die Wohnzimmer Fans gestreamt oder sie arbeiten an speziellem Merch, um dadurch Einnahmen zu generieren.

BEHEMOTH haben sich dazu entschieden, ein großes Spektakel zu veranstalten und den Fans das bestmögliche Live-Erlebnis in den eigenen vier Wänden zu bieten. Wer den Werdegang der Band ein wenig verfolgt hat, weiß, dass die Polen sich von einem Untergrund-Act zu einem sehr präsenten und vielfach beachteten Musikprojekt hochgearbeitet haben und kontinuierlich am Ausbau der eigenen Marke tüffteln. Nicht nur die Shows wurden aufwendiger, auch die Beachtung seitens der Gegner wuchs mit den Jahren stetig an. Gefühlt wird Nergal, Kopf der Band, fast nun regelmäßig vor die Gerichte Polens gezerrt, um sich für blasphemische Aktionen oder das ‚Verhunzen‘ von Nationalsymboliken zu rechtfertigen. Bisher wurde er immer freigesprochen.
Doch die Band mag es, den Regierungsfuzzis und Katholiken-Ultras auf den Sack zu gehen. Schließlich geht es hier um Meinungs- und Kunstfreiheit. So wunderte man sich nicht, als BEHEMOTH einen Livestream der Extraklasse ankündigen – die Erwartungen sind hoch, nicht nur weil das Konzert in einer Kirche stattfinden soll. Das hat bei den Gegnern der Band sicherlich für Schnappatmung gesorgt, auch wenn die besagte Kirche nicht mehr in Betrieb und nun in Privatbesitz ist. Außerdem ließ man Begriffe wie „cineastisches Erlebnis“, „blasphemisch“ und „frevlerisch“ durch den Raum fliegen. Im Interview mit Kerrang! sagte Nergal, dass man hoffe, dass die Polizei die Produktion nicht stürme, da den konservativen Autoritäten dies durchaus zuzutrauen wäre.

Für diese Veranstaltung musste man sich ein digitales Ticket erwerben und man hatte die Wahl zwischen dem „Director’s Cut“ oder der „Multi Cam“ Option, die es dem Zuschauer erlaubte, selbst zwischen den einzelnen Kameraeinstellungen umzustalten. Im Vorfeld gab es eine Pre-Show, in der IMPERIAL TRIUMPHANT quasi als Support fungierten.
Um 20:00 ging es also los: Auf der Website behemoth.live fieberten die Fans dem Livestream entgegen. Die ersten Bilder erschienen auf dem Monitor und sogleich initiierte man das erste Kapitel (ACT I). Eine Filmsequenz in schwarz-weiß beginnt, man sieht Reiter in schwarzen Kapuzenroben mit wehenden Fahnen, die durch die Szenerie galoppieren – Herr der Ringe Fans müssen unweigerlich an die Nazgûl denken. Ambient Musik klingt aus den Boxen bzw. Kopfhörern. Eine weitere Szene zeigt die Kirche mit Rauch, der aus dem Turm aufsteigt. Ein dramatischer Auftakt, der darin gipfelt, als die Band in Slow Motion durch ein mit Feuer bestücktes Portal die Kirche betritt. Der erste Songtitel (Evoe) wird eingeblendet und gleich darauf sieht man BEHEMOTH auf der Bühne bzw. dort, wo normalerweise der Altar wäre. Die Band trägt ihre typische Bühnengewandung, doch Inferno (Schlagzeuger) fällt zusätzlich durch seine Maske auf, an der von oben nach unten eine kleine Wirbelsäule verläuft. Außerdem trägt einen Gürtel aus Knochen, um das Bild zu vervollständigen.
Die Band ist von Anfang an fokussiert und weiß genau, wie sie sich vor der Kamera zu präsentieren hat. Wenn man den Director’s Cut schaut, gibt es zwischendurch immer mal wieder Dronenaufnahmen der Kirche und verschiedene Perspektiven auf die Band. Interessanterweise ist das Scheinwerferlicht zunächst in eher kühleren Farben gehalten, sodass man quasi zusammen mit der Band warm wird.

Setlist:
1. Evoe
2. Wolves Ov Siberia
3. Prometherion
4. From The Pagan Vastlands

Auf die Exposition folgt ACT II. Zunächst wird eine schwarz gekleidete Gestalt mit Schädelmaske gezeigt, die brennender Stahlwolle besetzte Stäbe schwingt, um beeindruckende Effekte zu erzeugen. Langsam mischen sich musikalische Klänge dazu und gehen in „Blow Your Trumpets Gabriel“ über. Nun ist überall im Kirchenraum Feuer entzündet worden und auch die Scheinwerfer wechseln nun zwischen warmen Farben.
Zu den Klängen von „Antichristian Phenomenon“ sieht man eine Aerial Hoop Künstlerin und auch ihr Reifen ist mit Feuer bestückt. Danach folgt eine kurze Ansprache von Nergal, in der er die Gemeinschaft beschwört und bestärkt und zur Zelebrierung der Show zusammen mit der Band einlädt. Darauf folgen die Songs „Conquer All“ und „Lucifer“.

Setlist:
5. Blow Your Trumpets Gabriel
6. Antichristian Phenomenon
7. Conquer All
8. Lucifer

Act III steht an und beim Einblenden einer Seil-Stahl-Konstruktion ist klar, dass nun eine weitere, besondere Performance bevorsteht. Drei Gestalten, die natürlich in ein schwarzes Gewand samt Schädelmaske gehüllt sind, eskortieren eine fast nackte Frau, die vorrangig mit einer weißen, bröckeligen Schicht bedeckt ist. Außerdem fällt sofort auf, dass man sich nicht dafür entschieden, hat ein Model mit 90-60-90 Maßen zu engagieren, sondern eins mit einem nicht dem typischen Schönheitsideal entsprechenden Körper: Breite Hüften, kaum Taille, sehr kleine Brüste. Eine schöne Abwechslung (wenngleich ein Model mit schlankem Körper eher ungeeignet für diese Performance wäre). Vor der Konstruktion angekommen zeigt die Kamera Nahaufnahmen davon, dass man beginnt, dem Bondage-Model Haken durch ihre Haut an Armen und Rücken durchzustechen. Sicherlich der Moment, an dem die meisten sich sehr unwohl gefühlt haben. Sobald die Seile durch die Haken gezogen waren und damit begonnen wurde, das Model emporzuziehen, setzte die Band mit „Ora Pro Nubis Lucifer“ ein. Erst dann sah man, dass die Bondage-Performance nicht zusätzlich aufgenommen wurde, sondern parallel zur Live Show der Band ablief. So hatte diese Sequenz etwas Rituelles an sich.
Zu „Chwała Mordercom Wojciecha“ stellt sich Nergal auf den Balkon gegenüber des Altars und tritt mit einem Megafon anstelle eines Mikros auf. Am Balkon sind rot-schwarz-weiße Banner befestigt, die in ihrem Design an eine bestimmte Zeit des 20. Jahrhunderts erinnern. Sie sind jedoch weit genug davon entfernt, um als Kopie durchzugehen. Im Laufe des Songs begibt sich Nergal wieder in den Saal und dirigiert mit brennenden Taktstäben die Show.
Der dritte Akt wird mit „Chant For Ezkaton 2000 E.V.“ abgeschlossen, bei dem nun die obligatorischen Blutkapseln zum Einsatz kommen. Am Ende sieht man, wie Nergal seine Gitarre einem Bühnenhelfer zuwirft und der diese gerade noch so fangen kann – da hat sich wohl jemand verschätzt.

Setlist:
9. Ora Pro Nubis Lucifer
10. Satan’s Sword
11. Ov Fire And The Void
12. Chwała Mordercom Wojciecha
13. As Above So Below
14. Slave Shall Serve
15. Chant For Ezkaton 2000 E.V.

Es beginnt ACT IV, der letzte Akt dieses Spektakels. Man sieht den Bassisten Orion mit Bogen und einem brennenden Pfeil, mit dem er das Triumviratus-Kreuz, welches das aktuelle Symbol von BEHEMOTH ist, anzündet. Auch hier arbeitet man mit Schwarz-Weiß-Optik und einer Verlangsamung der Bilder. Außerdem sind diese und bereits gezeigte Szenen eine Remineszenz an die Ästhetik der Black Metal Bewegung der 90er Jahre. Man kann aber durchaus behaupten, dass BEHEMOTH diese Ästhetik auf ein neues Niveau heben und den letzten Schliff verpassen.
Musikalisch wird der letzte Akt durch „Sculpting The Throne Ov Seth“ eingeleitet. Es wird nochmal alles an Bildern und Feuer rausgeholt, was geht. Zu „Bartzabel“ holt Nergal das passende Kostüm raus und Inferno nutzt zum Teil Oberschenkelknochen, um seine Toms zu bearbeiten. Als Begleitung zu „Decade ov Therion“ werden Bilder von einem in Flammen stehenden Reiter gezeigt und als Höhepunkt und Abschluss wird die Hymne „O Father O Satan O Sun“ dargeboten, wofür auch noch Feuerinstallationen auf dem Dach der Kirche angebracht wurden. Sobald die letzten Töne ausgeklungen sind, rollen die Credits über den Bildschirm und unweigerlich entweicht einem ein kleiner Seufzer der Erleichterung.

Setlist:
16. Sculpting The Throne Ov Seth
17. Bartzabel
18. Decade Of Therion
19. O Father O Satan O Sun!

BEHEMOTH haben die Erwartungen hoch geschürt und das alles auch abgeliefert, wenn nicht sogar ein bisschen mehr. Dem Zuschauer wurde sehr viel geboten, sodass dies nicht einfach ’nur‘ ein Livestream war, sondern ein richtiges Ereignis, welches für die Zukunft sicherlich Maßstäbe setzt und zeigt, was alles möglich ist. Auch technisch lief alles glatt, die Leitung war stabil, es gab keine Verzögerungen in Bild oder Ton. Man hatte ja befürchtet, dass einige Gegner möglicherweise die Veranstaltung stören würden, doch nichts dergleichen ist geschehen (was sicherlich auch ein Verdienst der engagierten Security-Kräfte war).
Dieser Livestream wird in naher Zukunft auf jeden Fall für Gesprächsstoff sorgen, um nun innerhalb der Szene oder in christlich-konservativen Kreisen (vor allem in Polen). Bands, die vielleicht ebenfalls einen Livestream planen und ein gewisses Budget haben, werden wohl ein Auge darauf haben, wie sie diesen Livestream gestalten und was sie ihren Fans bieten möchten. Denn ob ab nächsten Jahr wieder Konzerte regelmäßig – und hoffentlich ohne zusätzliche Vorschriften – stattfinden werden, ist noch offen. So werden sich Künstler neue Strategien einfallen lassen müssen, um nicht komplett von Tonträgereinnahmen abhängig zu sein.