Wenn man versucht, eine neue Rubrik einzuführen, dann muss man viele Punkte beachten. Im ersten Moment denkt man gar nicht daran, dass die Umsetzung derart kompliziert sein kann. In „Früher war alles besser!“ geht es um Bands, die einen prominenten Besetzungswechsel hatten. Zwei Redaktionsmitglieder versuchen, ihren jeweiligen Standpunkt zu untermauern, weshalb eine Konstellation zum jeweiligen Zeitpunkt entweder von der Personalumstellung profitiert hat oder das Gegenteil der Fall ist. Den Anfang machen Marko und Alex.
Alex: Das Problem in der ersten Runde war eindeutig, dass Marko keinen Geschmack hat und es wenig Überschneidungen gibt. Ob Soil mit oder ohne Ryan McCombs, Sentenced mit oder ohne Ville Laihiala oder aber Scar Symmetry mit einem oder zwei Sängern. Der Typ hat keine Ahnung und kommt dann mit Beispielen wie Suicide Silence oder Metallica um die Ecke. Die totale Geschmacksverirrung wurde definitiv bestätigt, als er doch tatsächlich behauptet hat, ARCH ENEMY waren mit Angela Gossow besser. Dies ist alleine deshalb definitiv falsch, da Alissa eine viel bessere Performance hat und ihre Energie auf der Bühne unvergleichlich ist.
Klar, Angela war auch nicht schlecht, aber wo Angela einfach nur wild rumgröhlt und headbangt, flitzt Alissa über die Bühne und heizt das Publikum richtig an. Außerdem habe ich noch keinen Auftritt gesehen, bei dem Alissa nicht wusste, in welcher Stadt sie ist. Bei Angela war das durchaus mal der Fall.
Marko: Um vorab klar zu machen, dass Geschmacksstörungen heutzutage nicht unbedingt durch
eine Corona-Infektion begründet sind, muss man sich vor Augen halten, dass Alex bei Bands wie Lamb of God, Cannibal Corpse oder Black Sabbath mit dem „Ich-höre-die-gar-nicht“-Argument abgewunken hat. Nach langem Hin und Her mit Sir von Ungnade konnten wir uns letztlich aber bei ARCH ENEMY einigen. Um Angela direkt in Schutz zu nehmen: Wenn man gefühlt, täglich sieben Länder sieht, kann es durchaus mal passieren, dass man etwas durcheinanderbringt. Eine Sache, die Angela Alissa definitiv voraus hat, ist Authentizität. Wenn Frau Gossow mich dazu aufruft, gegen das Establishment zu kämpfen und Straßenbarrikaden zu stürmen, kaufe ich es ihr 100 Mal eher ab als Alissa, die hingegen deutlich mehr Wert auf Show und Theater als auf Inhalt legt. Abgesehen davon gehört Will To Power mit Alissa zu den schwächsten Alben der Diskographie. Platten wie Wages of Sin oder die überragende Doomsday Machine sind schlicht und ergreifend Meilensteine und auch Angelas letzte Präsenz auf „Khaos Legion war superb.
Alex: Wenn ich sowas lese, bekomme ich doch glatt schon wieder Puls. Klar kann man verstehen, dass Angela da durch ’n Tüddel kommt, allerdings ist es dennoch etwas peinlich und nicht wirklich professionell. Klar, legt Alissa deutlich mehr Wert auf den Showfaktor, aber genau darum geht es doch. Große und bekannte Bands wie ARCH ENEMY sind einfach nicht dafür geeignet, gegen das Establishment aufzurufen. Kiss, besonders Gene Simmons, predigen ja auch keine Bescheidenheit. Und bei einem Konzert will man auch unterhalten werden, und ich fühle mich deutlich mehr von Alissa unterhalten als von Angela. Klar sind Alben wie Doomsday Machine oder Wages of Sin grandios, allerdings nicht dank Angela, diese hatte nämlich kaum einen Beitrag darauf (abgesehen von Teilen der Lyrics) und eben ihrem Gesang. Genauso wenig war Alissa bei Will to Power beteiligt.
Allerdings würde ich Alissa zusprechen, stimmlich deutlich fähiger zu sein. Außer dem ARCH ENEMY typischen Gegrowle kann sie eben auch noch sehr gut engelsklar singen, was auch ARCH ENEMY zugute kommt, da so viel mehr experimentiert werden kann. Nichts anderes wurde auf Will to Power versucht. Davon mal völlig fern, ist der Song „War Eternal“, mit Alissa, um längen besser als „Nemesis“ und musikalisch auch deutlich anspruchsvoller. Die Band hat sich einfach weiterentwickelt und mit Alissa eine fähige Sängerin gefunden, die diese Entwicklung auch mitmachen kann und die nicht nach dem dritten Liveset in drei Tagen klingt, als würde man Cornflakes in einen Mixer hauen.
Marko: Genau das ist ja eben der Punkt! Die Band darf sich ja auch gerne weiterentwickeln, was zwischen Wages of Sin und Khaos Legions hörbar geschehen ist, aber nur weil Alissa stimmlich breiter aufgestellt ist als Angela, bedeutet das eben nicht, dass sich Cleanvocals auch mit der Musik von ARCH ENEMY vertragen. Besonders „Reason to Believe“ ist für mich eine glatte Ohrfeige und ein fehlgeschlagenes Experiment. Zu Angelas Zeiten konnte die Band bewusst ihre Stärken ausspielen, wohingegen jetzt eher halbblindes Vorantasten der Status quo zu sein scheint. Und dass Angela keinen Beitrag bei ihrem Einstand hatte, wage ich stark zu bezweifeln, denn Angela hat das Bild, einer selbstbewussten Frau als Sängerin in einer Metalband, erst so richtig zementiert und die Barrieren eingerissen und so einer ganzen Reihe an weiblichen Vokalisten den Weg geebnet, sich ihren Platz an der Front zu sichern. Unter anderem übrigens Alissa.
Der ideologische Wert von Angela als Künstlerin, ihre Authentizität und ihre Pionierrolle in Sachen „Frontfrau“ hat einen Impact auf die Szene gehabt, dem Alissa nur hechelnd hinterherschauen kann.
Alex: Damit sagst Du doch im Prinzip, dass sich eine Band nur so weit verändern darf, wie es dem Hörer gefällt? Allerdings sollte eine Band doch ihr gesamtes Potential nutzen. Gerade wenn eine neue Sängerin am Start ist, die stimmlich breiter aufgestellt ist, sollte eine Band sich das doch zu nutzen machen und zumindest damit experimentieren? Ich sage ja auch nicht, dass Clean Vocals bei ARCH ENEMY geil sind, ich mag es z.B. auch gar nicht, aber das Experiment war definitiv gut und wichtig. Ansonsten hätte es doch geheißen: „Jetzt haben die schon eine neue Sängerin und machen nichts drauß!“ Bei manchen Aussagen von Dir frag ich mich auch, ob Du überhaupt lesen kannst, oder nur schreiben. Musikalisch hatte Angela wenig zu tun bei den von dir angeführten Beispielen und dass sie einen Weg geebnet hat, glaube ich auch nicht. Es gab vorher bereits Frauen im Metal, da hatte Angela wenig Einfluss. Jedoch ist die Szene noch immer sehr weit davon entfernt, Frauen als gleichwertig in der Musik zu erachten. Frauen werden – auch im Metal – leider noch immer viel zu sehr sexualisiert und als „Stück Fleisch“ gesehen, was zutiefst verwerflich ist. Andauernd gibt es wieder Berichte über die „Hottest Chicks in Metal“ oder bei Interviews wird eher darauf abgezielt in Erfahrung zu bringen „wie es denn als Frau zwischen Männern ist“ und weniger zur Musik gefragt. Da hat Angela sicherlich einiges an Vorarbeit geleistet, aber Alissa ebenso. Außerdem setzt sie sich massiv für Tierwohl ein und ist Veganerin, was sehr sympathisch ist. Alissa trägt diese Attitüde auf der Bühne weniger nach außen, als Angela es getan hat, gerade das macht Alissa in meinen Augen sympathischer. Sie überzeugt eher durch Taten, als durch Worte und stumpfe Parolen. Und dadurch, dass sie stimmlich in meinen Augen breiter aufgestellt ist und ARCH ENEMY so die Möglichkeit bekommen, neue Wege zu ergründen und nicht immer nur dieselben Sachen zu machen, favorisiere ich eindeutig Alissa, obgleich ich nur durch ARCH ENEMY mit Angela zum Metal gekommen bin.