Genre: Experimental Hardcore/Sludge
Label: Season of Mist
Veröffentlichung: 23.07.2021
Bewertung: Klasse (8/10)
Sein oder nicht Sein? Diese Frage stellen sich EDRVE jedenfalls definitiv weniger. Das Triumvirat aus Litauen beschäftigt sich auf seinem neuen Longplayer mit dem persönlichen Erleben. Sei es Freude oder Trauer, Lust oder Abscheu, Reue oder Schuld. Der emotionale Mixer, in den die Band alle Aspekte des (er-)lebenden Menschen hineinwirft, geht ebenfalls alles andere als vorhersehbar in die Vollen. Ohne Kompromisse vereint die Band in ihrem Stil jegliche Stilistiken, die ihr zum Erreichen ihres Ziels vorschweben. Egal ob Black Metal, Hardcore, Sludge, Death Metal oder vieles mehr. Kernstück ist die Übersetzung von Gedanken und Emotionen in Rhythmen und Melodien. Diesen Ansatz konnte man bereits auf dem damals noch ziemlich undergroundigen Debüt Vaitojimas bestens erkennen. Doch dieses Mal geht die Truppe noch einen Schritt weiter und extremer an den Start. Passend hierfür lässt sich der Albumtitel mit „Selbstmitleid“ ins Deutsche übertragen. Steht also für das ureigene Erleben von negativen Gefühlsregungen. Muss man jetzt allerdings Mitleid mit den Musikern haben, die übers Ziel hinausgeschossen sind oder verbirgt sich eine interessante atmosphärische Reise ins Ich hinter der Platte?
Von „Atmosphäre“ geht es auch direkt zu „Aggression“. „Lavondemes“ brettert mit Blastbeats und unübersichtlichem Riffing los, durch das Fans von Nails durchaus zum Frohlocken angehalten werden. Ebenfalls gut zu gefallen weiß der unbequeme Mittelteil. Die Stopps und die sirenenartigen Hintergrundgeräusche lassen an Silent Hill erinnern, sobald die „Anderswelt“ Einzug hält. Echt fieser Brocken direkt zu Beginn.
Etwas zugänglicher präsentiert sich danach „Smala“. Weniger stakkatoartiges Geschnetzel, dafür aber mit mehr Fläche und ebenfalls wieder mit sehr emotionalem Gesang versteht sich der Song gut darin, die Instrumente übereinander zu schichten. Eine kleine Prise Mastodon hat sich ebenfalls versteckt, doch wird diese stampfend und in wütender Verzweiflung verzerrt. Apropos „verzerrt“: „Votis“ schaltet noch einmal einen Gang zurück und lässt als Hauptthema eine verzerrt gezupfte Gitarre erklingen. Die elektronischen Elemente verleihen dem Song einen gewissen Industrial-Hauch, der völlig ohne Gesang auskommt. Interessante Entscheidung, ein so hypnotisches Instrumental direkt an den Anfang der Platte zu legen.
Ähnlich wie die Ukrainer White Ward verstehen sich ERDVE gut darin, das Feeling einer kalten, urbanen Gesellschaft heraufzubeschwören, in der man völlig mit sich allein ist. Blass und von fehlerhaft funktionierenden Neonröhren beleuchtete, weiß gekachelte Unterführungen, substanzgebundene Abhängigkeiten an jeder Ecke, zerbrochene und dysfunktionale Existenzen, die man in jedem Gesicht, dass einem begegnet, ablesen kann. Überall Beton und Stahl. Die fern strahlenden Reklamen und Lichter der Innenstadt mit ihren Clubs, Bars aber auch Banken und Unternehmen wirken beinahe wie eine Verhöhnung und unendlich weit entfernt. Dort, wo die „Lebenden“ sich tummeln. Dort, wo es noch etwas wie „echtes Leben“ oder zumindest eine kollektiv definierte Illusion davon gibt. Aber nicht hier. Nicht im Sumpf aus Traumata und Orientierungslosigkeit, in dem Schwärze und Kälte aus Farbe und Gefühl einen undurchdringlichen Mantel über einen werfen, bevor man verschlungen und vergessen wird, als wäre man nie da gewesen.
Es wechseln sich im Verlauf des Albums immer wieder reguläre Songs als auch instrumentale Einspieler ab, die weniger als losgelöstes Stück betrachtet werden können, sondern nur in Einheit ihre Stärke zeigen. So sind bspw. „Bendryste“ (= „Gemeinschaft“) und „Sugretinimas“ (= „Nebeneinander) ziemlich blind vor Wut. Was sich direkt in der musikalischen Umsetzung widerspiegelt, die genauso ziellos ist. In diesem Fall stellt dies jedoch einen äußerst positiven Aspekt dar, da ergo die Idee Emotionen zu vertonen vollends aufgegangen ist.
„Pragulos“ kippt die Stimmung jedoch nach verrauchter Aggression ins Introvertierte. Trauer und Melancholie folgen. Gut festzumachen an den fragilen Gitarren und den langsamen, beinahe doomigen Drums. Sogar Cleanvocals finden ihren Weg in den Song, welcher sich somit direkt abhebt. Doch die Ruhe hält nicht lang. Mit dem Titelstück „Savigaila“ meldet sich auch die Dissonanz zurück und diese bringt ein Musik gewordenes Chaos in bester War From A Harlots Mouth-Manier im Huckepack mit.
Abschließend lässt sich sagen, dass das Konzept von EDRVE äußerst gut vertont wurde. Sicherlich ist im klassischen Sinne kein guter Song dabei, denn das war auch nicht die Motivation. Sondern die ungefilterte Präsentation von Emotionen und dies ist der Band auch durchaus gelungen. Ein interessantes Album, das sich definitiv dafür eignet, hin und wieder mit dem richtigen Mindset ausgepackt zu werden, um über das Leben und seine Banalitäten nachzudenken.